Vom 21. bis 22. September 2010 fand in Berlin die Tagung "Inklusive Leidenschaft - Lesben, Schwule und transgeschlechtliche Menschen mit Behinderung" statt. Auf Basis des nachfolgenden Tagungsbeitrags präsentierte Urs Weyermann aus Basel queerhandicap den Tagungsteilnehmenden als "sozialen Ort von LSBTI mit Behinderung". Seine mitgebrachten Eindrücke und Erkenntnisse von der Tagung veranlaßten uns zur anschließenden "Nachlese".
Im Oktober 2007 trafen sich Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (=LSBT) mit Behinderung aus ganz Nordrhein-Westfalen zu einem Wochenende in Köln. Motto: "alle anders, alle gleich". Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten von ihren Schwierigkeiten mit dem "Doppelten Coming Out" und Erfahrungen mit „Doppelter Diskriminierung“. „Bedürfnisse anmelden!“ wurde zu einem Schlagwort des Wochenendes. Gemeint ist: nicht länger zurückstecken, sondern Mut haben, eigene Interessen deutlich anzusprechen. Eine stärkere Vernetzung existierender Gruppen von LSBT mit Behinderung und anderer Interessierter wurde verabredet.
Zu diesem Treffen eingeladen hatten einige aktive Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender mit Behinderung aus Essen, Münster und Köln. Unterstützt vom Schwulen Netzwerk NRW e.V. warben sie für das Treffen unter dem gemeinsamen Namen "queerhandicap".
Die gleichnamige Website wurde nach dem Treffen zu einem Infopool von und für LSBT mit Behinderung erweitert. Ein Verzeichnis barrierefreier Szene-Treffpunkte wurde angelegt. Eine bereits zuvor begonnene Kontaktliste von lokalen Gruppen und Ansprechpersonen wurde online gestellt. Über einen Aufruf auf der Startseite, die Verbreitung eines Infoflyers, aber auch durch gezielte Ansprache gewannen wir weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter für unsere Vernetzungsinitiative. Den Gruppengründern von Gruppen in Hamburg (SBH Hamburg) und Frankfurt (GayBiHandicap) standen wir beratend zur Seite.
Wir erhalten aber auch immer wieder Hilferufe von LSBT mit Behinderung, ihren Angehörigen oder auch mancher pädagogischer Fachkraft, die mit ihrem Latein am Ende ist. Manche Antwort fällt uns leicht. Manche Fragen bringen uns aber auch in Kontakt mit Aktiven der LSBT- oder der Behindertenselbsthilfe, Antworten und Lösungsansätze werden zu einem gemeinsamen Anliegen.
Das Folgetreffen von queerhandicap Oktober 2008 in Köln bekam bereits Zulauf durch Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender mit Behinderung aus ganz Deutschland sowie aus Österreich und den Niederlanden. Der Austausch miteinander, aber auch mit Referenten aus Berlin, Utrecht und Wien gaben wichtige Impulse für die künftige Arbeit.
Im September 2009 folgten dann 25 LSBT mit Behinderung, ihre Begleiter und Assistenten sowie ein Begleithund dem Ruf in die barrierefreie Jugendherberge Düsseldorf. Darunter Männer und Frauen im Rollstuhl, mit Seh- und Hörbehinderung oder mit Lernschwierigkeiten. Die gegenseitige Sensibilität aller Teilnehmenden für die Belange ihrer jeweils sehr unterschiedlichen Behinderungen prägen die Treffen. Bereits im Vorfeld organisieren wir jeweils behinderungsspezifische Hilfestellungen.
Teilnehmende an den Treffen suchen und finden neue Kraft für die Herausforderungen im Alltag. Viele loben den Zusammenhalt - Zitat: "Ich finde Aufnahme wie in einer Familie." Andere stellen Vergleiche mit ähnlichen Tagungen an - Zitat: "Ich habe noch nie so viel Disziplin erlebt." Björn Ohnesorg, ein Mitarbeiter der Schwulenberatung Berlin, dem bundesweit einzigen professionellen Dienstleister speziell für Schwule mit Behinderung äußerte sich zu dem Seitenwechsel, den er mit seiner Teilnahme 2008 vollzog - Zitat: "Es war für mich ein Wagnis. Aber es hat sich gelohnt."
Einige unter uns wünschen sich für die Zukunft queerhandicap auch als direkte politische Interessenvertretung für die spezifischen Anliegen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern mit Behinderung. Andere sehen queerhandicap mehr als Lernort für LSBT mit Behinderung, um sich für den eigenen Alltag, aber auch die eigene politische Arbeit vor Ort wappnen zu können.
Zwei Kernanliegen sind immer wieder:
Positiv vermerkt wurden zum Treffen 2008 daher die Grußworte von Volker Beck (DIE GRÜNEN), Michael Kauch (FDP) und Ingrid Hack (SPD).
Besonders gefreut hat uns der Selbsthilfepreis des Bundesverbandes der körper- und mehrfachbehinderten Menschen e.V.. Er wurde uns im April 2009 aus den Händen von Karin Evers-Meyer, der damaligen Bundesbehindertenbeauftragten überreicht.
Was fehlt uns?
Uns fehlen die Kräfte.
Manche
LSBT
mit Behinderung halten
queerhandicap
leider für überflüssig. Trotz Behinderung und ihrer
sexuellen Identität führen sie ein weitgehend
sorgenfreies Leben. Soll es ja geben. - Oder sie
fühlen sich in bestehenden Strukturen der
LSBT-Szene
oder der Behindertenselbsthilfe gut aufgehoben.
Einige sagen auch, daß sie in den bestehenden
Strukturen für ihre spezifischen Anliegen kämpfen
wollen. Sie wollen nicht im "eigenen Saft schmoren",
sagen sie.
Manche
LSBT
mit Behinderung halten
queerhandicap
für sehr wichtig. Oft sind es aber gerade jene, für die
das Leben mit Behinderung und der eigenen sexuellen
Identität eine besonders schwere Herausforderung
darstellt. Sie haben oft nicht die Kraft, sich
kontinuierlich bei uns zu engagieren.
Mehr
LSBT
mit Behinderung mit Überzeugung und
Kraft – das wünschen wir uns.
Und:
Uns fehlt das Geld.
Der Motor unserer Arbeit sind bisher unsere Jahrestreffen
im Herbst. Hier wird
queerhandicap
erlebbar. Uns ist es wichtig, daß alle, die wollen,
teilnehmen können - unabhängig von der Höhe des eigenen
Einkommens und von der Art der Behinderung.
Vor allem bezahlbare Unterkünfte für alle und der Einsatz
von Gebärdendolmetschern ist jedes Jahr aufs Neue eine
große Herausforderung.
Mehr Geld für behinderungsbedingten
Mehraufwand – auch das wünschen wir uns.
Höhere Verbundenheit miteinander, rechtliche Freiheiten und mehr finanzielle Spielräume – das waren die Motive für eine Vereinsgründung, deren Details wir fast ein Jahr lang in großer Runde diskutierten und die schließlich im Sommer diesen Jahres in Köln stattfand. Der Vorstand besteht aus Corrie Peters und Cindy Dillmann aus Köln und Oskar Wagner aus Lörrach. Erst nach Eintragung im Herbst werden wir öffentlich für den Verein werben.
Aktuelle Infos über uns im Netz unter:
www.queerhandicap.de
- Vielen Dank!
Sehr kurzfristig trat Urs Weyermann aus Basel an die Stelle des erkrankten Corrie Peters aus Köln, um queerhandicap bei der Tagung zu vertreten. Zurück in der Heimat hatte er einige Mitbringsel im Gepäck:
Urs brachte von der Tagung eine offene Frage mit:
"Wie hoch ist der Lesbenanteil bei
queerhandicap?
Was tun wir, um Lesben einzubinden?"
Auch Lesben mit Behinderung fühlen sich von
queerhandicap
angesprochen. Uns ist es wichtig, ihre Sichtbarkeit
in der Öffentlichkeit noch weiter zu erhöhen. So
unterhalten wir Kontakte zur Landesarbeitsgemeinschaft
Lesben in
NRW
und unterstützen die LesMigras-Kampagne zu Gewalt- und
Mehrfachdiskriminierungserfahrungen von Lesben,
bisexuellen Frauen und Trans*-Menschen in Deutschland.
Wir sind offen für weitere Anregungen und Kooperationen
entsprechender Gruppierungen.
Urs brachte von der Tagung grollende Enttäuschung mit:
"Inklusion ist Programm – nur nicht in der Programmgestaltung!"
Der erhöhte Pausenbedarf von Menschen mit Behinderung
und ein angepasstes Tempo im Programmablauf bleiben auf
der Strecke. Pünktliches Erscheinen, sich mit Rollstuhl
einen geeigneten Platz im Raum suchen, konzentriertes
Zuhören und Verstehen werden erschwert. Ausreichend Zeit
für Toilettengänge und Mahlzeiten fehlten. Der zu enge
Zeitrahmen raubt Zeit für informelle Gespräche und
dringend notwendige Vernetzung!!!
Urs brachte von der Tagung eine Erkenntnis mit:
Das Hingelangen zu Veranstaltungen für
LSBT
mit Behinderung ist für diese oft mit einer Reihe von
Problemen behaftet und daher nur selten möglich.
Um so wichtiger ist, daß derartige Veranstaltungen
dann auch dem erhöhten Bedarf an Barrierefreiheit
und Zeit gerecht werden. Dieser behinderungsbedingte
Mehrbedarf kann nicht zusätzlich von den
TeilnehmerInnen finanziell getragen werden. Laut Urs
habe es in der
AG 8 die
Erkenntnis gegeben:
"Es braucht für die Aktiven in diesem Bereich
Schulungen zur Mittelbeschaffung, etwa aus
Fördertöpfen der Europäischen Union!"
– Da wären wir sofort dabei!
Urs brachte von der Tagung Begeisterung
und einen Strauß Ideen mit:
Urs zeigte sich begeistert von der Tagung.
"Gerne wieder so was", wie er sagte. Zwei seiner
aufgeschnappten Ideen: Schulbesuche und Szenebesuche.
Einen Schulbesuch hat
queerhandicap
schon hinter sich. Im Mai 2010 besuchten wir eine
Fachschule für Heilerziehungspflege in Düsseldorf.
20 Schülerinnen und Schüler wurden an das Thema
"LSBT
mit Behinderung" herangeführt. Szenebesuche
mit "Proberolli" wären Neuland für uns.
Wir schauen mal ...
Rad und Tat, die offene Initiative lesbischer Frauen sowie die Schwulenberatung Berlin gaben als Mitveranstalter nach Ende der Tagung folgenden gemeinsamen Pressetext heraus:
Eigene Aktuell-Meldungen über die Fachtagung finden sich hier:
Externe Meldungen fanden sich im Internetangebot der Siegessäule, Berlins schwullesbisches Stadtmagazin:
Weitere Berichte und Informationen über die Fachtagung unter:
http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/themen/index.html#behinderung
Eine Dokumentation der Fachtagung ist in Arbeit. Sie
erscheint im Frühjahr 2011 und wird kostenlos
zur Verfügung gestellt.
Vorbestellungen der Tagungsdokumentation über:
antidiskriminierungsstelle@senias.berlin.de(Stichwort: "Broschüre Inklusive Leidenschaft")
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